Westfälisches Landesmedienzentrum u.a.(Hrsg.): Unter deutscher Besatzung

Cover
Titel
Unter deutscher Besatzung. Aalten, eine niederländische Grenzstadt 1940-1945


Herausgeber
Westfälisches Landesmedienzentrum; Geschichtsort Villa ten Hompel, Museum Markt 12
Anzahl Seiten
DVD-ROM
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Judith Forysch, Onlineredaktion, Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen

Schon Erich Kästner spricht in seinem Buch „Das fliegende Klassenzimmer“ davon, den „Unterricht zum Lokaltermin“ 1 zu machen, bevor er seine Protagonisten auf eine Weltreise zu den Pyramiden, den Wikingern und abschließend zu Petrus schickt. Und was bei dem großen deutschen Schriftsteller schon funktionierte, lässt sich auch heute realisieren.

Die zweisprachige DVD „Unter deutscher Besatzung. Aalten, eine niederländische Grenzstadt 1940-45“ belegt eindrucksvoll, wie sinnvoll ausgewählte und pointiert präsentierte Regionalgeschichte das große Ganze anschaulich erklären kann. Die vom Westfälischen Landesmedienzentrum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Kooperation mit dem Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster herausgegebene DVD setzt sich aus zahlreichen Komponenten zusammen. Ein etwa 30-minütiger Film bietet den historischen Hintergrund: Mit original Bild- und Tonaufnahmen werden Zeitzeugeninterviews vermischt, die über die Besatzungszeit in den Niederlanden und vor allem in der Region Achterhoek berichten. Aber auch jüngere Benutzer haben durch vertonte Bilder des zweisprachigen Cartoons „Das Versteck“ die Möglichkeit, leichten Zugang zu einer schweren Thematik zu erhalten. Eine Vielzahl an weiteren Zeitzeugenberichten rundet das filmische Angebot der DVD ab. Hinzu kommen noch etwa 100 Film-, Bild- und Textquellen. Diese bieten die Möglichkeit sich intensiver mit der vorgegebenen Thematik auseinanderzusetzen.

Konzipiert wurde die DVD vor allem als zusätzliches Informationsmaterial für das im Dezember 2004 eröffnete deutsch-niederländische Museum Markt 12 in Aalten. Dieses spiegelt das Leben in der Gemeinde Achterhoek zur Zeit der Besatzung wider – genau wie die DVD. Aus dem Museums-Vorbereitungsfilm für ältere Jugendliche und Erwachsene ist jedoch deutlich mehr geworden, nämlich ein Medium, das völlig unabhängig von der Möglichkeit eines Museumsbesuchs vor Ort die Kontexte von Krieg, Besatzung, NS-Unrecht, Widerstand, tätiger Zeugenschaft und Kollaboration verdeutlicht, dabei das wechselvolle deutsch-niederländische Verhältnis bis in die jüngste Gegenwart hinein fokussiert und analysiert.

Gedenkstätten und Gedächtnisorte wie Markt 12 repräsentieren häufig lokale und allgemeine Historie in einem: Das Geschehen am jeweiligen Ort wird transparent gemacht und in den größeren historischen Zusammenhang eingeordnet. 2 Dies trifft auch für die mediale Aufarbeitung zu. Chronologisch strukturiert zeigt die Filmsequenz das Leben unter der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. Mit einer Mischung aus Originalbildern und Tondokumenten sowie Zeitzeugenberichten werden die verschieden Facetten der Besatzungszeit beleuchtet. Die allgemeinen Hintergrundinformationen werden jeweils mit den Berichten Überlebender geortet. So berichtet ein Aaltener vom Morgen des 10. Mai 1940, als er zusammen mit seinem Vater zur Dijkstraat gelaufen ist, um die Einfahrt der deutschen Panzer mitzuerleben. Seine eindrucksvollste, sicher auch symbolträchtige Erinnerung: Trotz des tosenden Lärms der Panzerketten hatte sich unter der niederländischen Bevölkerung eine gespenstische Stille verbreitet.

Auch die anderen Zeitzeugen teilen ihre eindrücklichsten Erfahrungen mit. Durch die Auswahl der Interviewsequenzen wird ein guter Überblick des niederländischen Alltags gegeben. Ein jüdischer Zeitzeuge berichtet von seinem Untertauchen mitsamt seinen Eltern und schildert die Gefahren, denen sich die Familie, die ihn aufgenommen hatte, ausgesetzt sah. Ein anderer berichtet von seiner prägendsten Erinnerung: Er war mit drei anderen jungen Aaltener Männern an der Universität Utrecht eingeschrieben. Nachdem die Deutschen den niederländischen Studenten die so genannte Loyalitätserklärung aufdrängen wollten, einigte er sich mit zwei Freunden, diese nicht zu unterschreiben. Damit verlor er das Anrecht auf eine Fortsetzung des Studiums. Drastischer noch: Die Studenten, die sich weigerten die Erklärung zu unterzeichnen, sollten zum Arbeitsdienst nach Deutschland geschickt werden. „Dazu hatte ich nun überhaupt keine Lust“. Deswegen entschloss sich der junge Student kurzerhand zum Untertauchen.

Neben einem jüdischen Überlebenden, einem Arbeitsdienstverweigerer und zwei Freundinnen, die die letzten Tage des Krieges im Haus Markt 12 schutzsuchend im Keller verbrachten, kommt aber auch der Sohn eines NSB-Ehepaars zu Wort. Die NSB war in den besetzten Niederlanden bald die einzige zugelassene Partei und arbeitete Hand in Hand mit den deutschen Nationalsozialisten. Der Sohn berichtet von seiner Kindheit auf der falschen Seite. Davon wie er mit seiner Schwester bespuckt und beschimpft wurde, wie er deswegen nicht mehr in Aalten zur Schule gehen musste, sondern auf die deutsche Schule in Winterswijk. Er berichtet auch von seiner Zeit im „Jugendsturm“, der Jugendorganisation der NSB. Und wie dort durch paramilitärische Übungen scheinbar spielerisch auf den Krieg vorbereitet wurde. „Aber wir merkten natürlich nicht, was das alles wirklich bedeutete.“

Damit wird allen Seiten des Kriegsgeschehens eine Stimme gegeben – und sich endgültig von den in den Niederlanden bis vor einigen Jahren noch vorherrschendem „Schwarz-Weiß, Gut-Böse“-Schema verabschiedet. Durch diese bewusst gewählte differenzierte Betrachtungsweise ist auch im Anschluss ein Diskurs über gemeinsame Erinnerungsarbeit in Deutschland und den Niederlanden erst möglich. Im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik dominiert im Blick auf das besetzte Königreich der Niederlande häufig allein das Einzelschicksal der Familie Frank mit ihrer berühmten Tochter Anne. Die Tagebuchlektüre bestimmt gerade in jüngeren Jahrgangsstufen weiterführender Schulen oft immer noch den Erstkontakt mit dem Komplex NS-Unrecht und Besatzung. Bewusst weitet die DVD die Perspektiven aus, problematisiert auch völlig andere Not- und Motivlagen der ‚onderduikers’ und damit viele Facetten des Lebens und Leidens unter dem Hakenkreuz, die bislang kaum Eingang in die Erinnerungskultur gefunden haben, übrigens auf beiden Seiten der Grenze nicht. Hier einen Beitrag zur Fundierung und Differenzierung zu leisten, ist zentrales Anliegen von „Markt 12“ in Aalten und auch der Macher des Mediums, die eine Vielzahl von Einzelquellen aufführen, die eine weitere Grundlage für eine Auseinandersetzung über die Ländergrenze hinweg bildet.

„Es ist von enormer Bedeutung, was die Öffentlichkeit [...] heute über die Ereignisse von gestern nicht nur erfährt, sondern sich auch merkt, denn nur dadurch kann man eine der Wahrheit möglichst nahe Erinnerung erhalten.“ 3 Mit diesen Worten hat der jugoslawische Diplomat, Schriftsteller und Übersetzer Ivan Ivanji, der die Haft in verschiedenen Konzentrationslagern der Nationalsozialisten überlebte, im September 2000 eine Konferenz in Buchenwald mit dem Titel „Die Zukunft erinnern“ eingeleitet. Die Frage, wie wir das tun, müssen wir dabei jeden Tag neu durchdenken. 4 Die DVD „Unter deutscher Besatzung“ hat sich der Erinnerungsarbeit verpflichtet – und vor allem das WIE neu durchdacht. Sie widmet sich neuen Themenkomplexen und wagt neue Formen der Präsentation. Die in den vergangenen Jahren aufgekommene Forderung, man müsse „aus der Geschichte lernen“ wird in der Produktion des Westfälischen Landesmedienzentrums und des Geschichtsortes Villa ten Hompel ernst genommen und Demokratieerziehung sowie politische Arbeit mit historischer Wissensvermittlung verknüpft. Dabei gelingt es besonders, „sowohl Intellekt als auch Emotion“ 5 anzusprechen, um den Lernprozess nachhaltiger werden zu lassen.

Und – ganz en passant – ist es eine Möglichkeit für die noch immer manchmal „ungleichen Nachbarn“ 6 einen weiteren Schritt aufeinander zuzugehen.

Anmerkungen:
1 Kästner, Erich, Das fliegende Klassenzimmer, Hamburg, 1989, S. 24.
2 Vgl.: Behrens-Cobet, Heidi: Erwachsene in Gedenkstätten. Randständige Adressaten. Zur Einführung, in: dies: Bilden und Gedenken. Erwachsenenbildung in Gedenkstätten und an Gedächtnisorten, Essen 1998, S. 7.
3 Ivanji, Ivan, Die Macht der Erinnerung, die Ohnmacht der Worte, in: Knigge, Volker; Frei, Norbert (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 12.
4 Koselleck, Reinhart, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Knigge, Volker; Frei, Norbert (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 3.
5 Frei, Norbert, Geschichtswissenschaft. Die Zukunft der Erinnerung: Geschichtswissenschaft, Gedenkstätten, Medien, in: ders.; Knigge, Volker, Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 396.
6 Wielenga, Friso, Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945, Münster 2000, S. 13.

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